Re: Das Review, das keiner lesen will


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Abgeschickt von Heiko am 27 April, 2013 um 17:17:11:

Antwort auf: Das Review, das keiner lesen will von Witchy Nightmare am 27 April, 2013 um 15:44:29:

: So, hier ist es nun – das Review, das keiner lesen will. Erfahrungsgemäß wird es aber trotzdem der eine oder andere lesen. Aber um wenigstens zu versuchen, dem üblicherweise unausweichlichen Gemecker, man „müsse“ hier irgendetwas ertragen, vorzubeugen, hier in anscheinend gebotener Deutlichkeit der Vorab-Hinweis: DIE LEKTÜRE DIESES BEITRAGS IST FREIWILLIG.

: Und nu geiht dat los ...

: WITCHYS REVIEW: DEEP PURPLE – NOW WHAT?!

: Fünf ist Trümpf, möchte man fast sagen. Mit ihrem fünften Langspieler nach dem Abgang des Herrn Blackmore hat die Band ein bemerkenswertes Album aufgelegt, von der instrumentalen Seite das beste von allen fünfen. Aber leider nur von der instrumentalen. Herrn Gillan gelingt es über weite Strecken nicht, den z.T. brillanten Ideen seine Kollegen adäquate Gesangspassagen hinzuzufügen. Natürlich muss seine Stimme dem fortschreitenden Alter Tribut zollen, das kann man ihm nicht vorwerfen, aber das ist nicht das eigentliche Problem. Es mangelt in manchen Songs an Ideen für interessante Gesangslinien, streckenweise singt er in Tonlagen, die er schlichtweg nicht beherrscht, und dass der Produzent – wie von Joachim bereits korrekt angemerkt – kiloweise Effekte auf die Stimme packt, macht es nicht besser, ebensowenig wie die vielen mehrstimmigen Passagen. Würde da nicht eine personifizierte Legende am Mikro stehen, würden sicher viele die Frage aufwerfen, ob sie dieses Album nicht besser mit einem anderen Sänger eingespielt hätten.

: Aber nun zu den einzelnen Songs ...

: A SIMPLE SONG

: Erster Gedanke beim Intro: „Oh Mann, so etwas hat es doch schon tausendmal gegeben.“ Aber es passt zum Songtitel. Kurz bevor ich mich damit arrangiert habe, dass diese Nummer wohl eher als Album-Intro denn als sonstwas gedacht ist, kommt es nach zwei Minuten allerdings zu seiner völlig überraschenden Eruption. Und ab da ist es – die geschilderten Vorbehalte gegenüber dem Gesang mal ausgenommen – ein gelungenes Werk. Mit einer Gesangslinie, deren mich ein wenig an „You Fool No One“ erinnert (was nur Zufall sein sein, das Desinteresse des Herrn Gillan in Sachen Mk III oder IV ist ja hinlänglich bekannt: „I never haven’t listened to Burn oder Strongbow“), einer Rhythmussektion, die in bester 1970er-Jahre-Tradition dahindonnert, und einem gelungenen Orgelsolo. Letzten Endes entfaltet sich hier ein Song mit mehr Atmosphäre als der Großteil des Outputs der Vorgängeralben und offenbart damit ein Positivum, das sich durch einen Großteil des Albums ziehen wird.

: WEIRDISTAN

: Oha, da werden Erinnerungen an „Purpendicular“ wach. Ein sehr interessantes Intro, dieses dann aber abrupt abgelöst von einer Gesangslinie, die mit dem Intro überhaupt nichts zu tun hat. Als wären da Passagen zusammengeschnitten worden, aus denen ursprünglich verschiedene Stücke werden sollten. DAS hat es zu Blackmores Zeiten nicht gegeben, da hatten die Songs einen roten Faden. Und hier bekommt Joachim auch zutiefst recht mit seinem Hinweis auf die Effektüberladenheit des Gesangs: Flanging und sonstwas galore. Aber mal davon ab ... irgendwie interessant ist der Song schon. Der Rhythmus stampft ordentlich daher, und die Gesangsmelodie hat auch was. Don Airey kann mit seinem Solo nicht ganz so glänzen wie im Stück zuvor, Steve Morse trifft mit seinem Beitrag allerdings voll auf die Zwölf. So muss ein Solo in einem solchen Kontext klingen. Dieses Stück hätten sie, finde ich, auch ruhig noch ein Stück länger werden lassen können.

: OUT OF HAND

: Tja ... und schon wieder der „Konstruktionsfehler“, dass ein hochinteressantes Riff zu Beginn durch eine völlig belanglose Gesangspassage abgelöst wird. Hier muss ich an das denken, was jemand im englischen Forum geschrieben hat: Steve Morse und Don Airey wollen es gern komplex, Herr Gillan möchte es aber lieber möglichst simpel. Und da passt, finde ich, einfach etwas nicht zusammen. Da haben auf dem Album „Perfect Strangers“ die Riffs und Gesangslinien viel besser ineinander gegriffen. Und auch davon ab ... nein, die beiden Songs davor fand ich spannender. Das Gitarrensolo ist gelungen, aber das alleine kann es auch nicht retten. Und dass sie ausgerechnet dieses Ding auf sechs Minuten auswalzen – das hätte nicht not getan. Beim Ende muss ich irgendwie an „King Of Dreams“ denken, aber das ist wohl auch nur Zufall.

: HELL TO PAY

: Hallo Roger, ist die Analogie des Intro zu „I Surrender“ auch Zufall, oder hatte da jemand eine wicked idea? Wie dem auch sei, auch hier hat das Intro nicht viel mit dem Song zu tun, und mal ehrlich ... wenn ich AC/DC hören will, schmeiß ich AC/DC rein und kein Highway–To-Hell-To-Pay-Pörpel. Eine pure Alibi-„es muss ja auch irgendwie ein schneller Song drauf“-Nummer, völlig überflüssig, mit großem Abstand das schwächste Stück auf dem Album. Einziger Trost: Da das Ding schon vorher als Single veröffentlicht worden ist, konnte man den Schrecken schon vorher verdauen. Ebenso wie die Erkenntnis, dass Steve seine Soli aus „Purpendicular“-Zeiten immer noch drauf hat. Einziger Lichtblick: Dons Solo in bester Jon-Lord-Tradition, und ich glaube, das ist hier kein Zufall, sondern exakt so gewollt. Wenn am Ende noch ein Originalzitat aus dem Solo von „Kentucky Woman“ gekommen wäre, es hätte mich nicht überrascht.

: BODY LINE

: Tja ... here we go again. Ein obercooler Half-time-Shuffle von Little Ian, eine ebenso coole Gitarrenfigur von Steve, Don fügt sich nahtlos ein (haben die Herrschaften vor der Aufnahme in Rosa’s Cantina zusammengehockt?), ein nicht minder cooles Riff als dessen Fortsetzung – und kommt Herr Gillan mit seinem belanglosen Gesangspart, dann auch noch in einer anderen Tonart, und alles fällt in Stücke. Schade, aus dem Stück hätte man mehr machen können. Nur: Für einen wirklich guten Rocksong müssen die instrumentalen UND gesanglichen Elemente passen, und das ist hier nach meinem – natürlich subjektiven – Dafürhalten schlichtweg nicht der Fall.

: ABOVE UND BEYOND

: Oh, Keith Emerson durfte auch mitspielen. Okay, Spaß beiseite, mir gefällt das, wie Don ihn hofiert. Der eigenartige ¾-Takt auch. Und endlich, endlich singt Herr Gillan mal in einer Tonlage, in der er seine Stimme zum Klingen bringen kann, ohne dass der Produzent zig Effekte drüber jagen muss. In der ersten Strophe zumindest. Und dieser Song ist stimmig, da passt alles zusammen. Eine rundum gelungene Komposition, Respekt an die Herrschaften. Bis hierhin der beste Song auf dem Album.

: BLOOD FROM A STONE

: Ähm ... Roger ... gib es zu, du hast heimlich „You Keep On Moving“ gehört. Wobei – warum auch nicht. Und Don hat sich nächtelang „Riders On A Storm“ reingezogen. Takt für Takt, Ton für Ton. Und Steve muss auch schon mal Pink Floyd gehört haben. Finde ich allerdings alles völlig in Ordnung. Und wieder schön relaxter Gesang. Folks, macht die Ohren auf, das ist zigmal besser als „Hell To Pay“. Da wirken die dezent eingestreuten Purple-typischen Riffs fast schon fremdkörperhaft. Aber egal, auf jeden Fall hat dieser Song etwas, was ich bei vielen neuzeitlichen DP-Elaboraten vermisse: Atmosphäre. Und davon eine ganze Menge.

: UNCOMMON MAN

: Steve, du Schelm. Bei einem solchen Tremolo am Anfang denkt man doch zwangsläufig an Herrn Blackmore. Aber wir wissen ja, dass die beiden Herrschaften sich gegenseitig respektieren, also ist das weder überraschend noch problematisch. Davon ab: Dieses Stück ist spannend. Sowohl die ersten drei Minuten bis zu Dons ELP-Fanfare als auch danach. Und diesmal fügt sich der Gesang auch besser ein, auch wenn es diesem Song gut tut, dass die Keyboards die Hauptrolle spielen. Wie schon jemand anders geschrieben hat: Don Airey ist der Star dieses Albums. Auch und gerade in diesem Stück.

: APRES VOUS

: Ist „Apres vous“ französisch für „And The Address“? Nein, natürlich nicht, aber man könnte es fast meinen angesichts dessen, was Don am Anfang macht. Was dann kommt, erinnert mich an irgendein „Purpendicular“-Stück, ich weiß aber nicht mehr, an welches. Und dann wieder das alte Problem: Das vielversprechende Intro passt überhaupt nicht zu dem, was danach kommt. Schade. Aber wenn man sich das Intro mal wegdenkt, haben wir hier einen der besseren Songs auf dem Album. Da sehe ich es auch Steve nach, dass er wieder eines seiner Frickel-Soli reindonnert – dafür ist die Instrumentalpassage davor umso besser.

: ALL THE TIME IN THE WORLD

: Okay, das Ding kennen wir ja schon. Und hier war ich erstaunt über die z.T. sehr negative Kritik, ich finde den Schinken nämlich rundum gelungen. Schön relaxed, keine Gesangspassagen, die den Sänger überfordern, und eine augenzwinkernde Message im Songtitel: Um dieses Album zu fabrizieren, haben sich die Herrschaften in der Tat alle Zeit der Welt gelassen.

: VINCENT PRICE

: Oha. Deep Purple goes Bombast? Und ja, es hat was. Sicher nicht der abwechslungsreichste Song auf dem Album, aber allemal ein würdiger Schlusspunkt. Wenn da nicht noch bei der Zugabe eine faustdicke Überraschung käme ...

: IT’LL BE ME

: Und das haut mich dann völlig aus den Socken. Diesen Song muss ich von allem, was ich zum Thema Gesang gesagt habe, ausdrücklich ausnehmen. DAS hat Herr Gillan immer noch genauso drauf wie vor 40 Jahren. DAS ist sein Ding – Rock’n’Roll pur. Und was seine Kollegen draus machen, amüsiert mich zutiefst. Man kann es klischeehaft nennen, vielleicht sogar albern, für mich ist es eine absolut gelungene Hommage an die Belle Epoque des Rock’n’Roll – und wer die Geschichte der Band ein wenig kennt, der weiß, dass es sie ohne Vorbilder wie Elvis Presley, Little Richard oder Jerry Lee Lewis gar nicht geben würde. So bescheuert es klingen mag – dieser Song ist für mich das Highlight des Albums, obwohl er mit Sicherheit nicht als so etwas gedacht ist.

: FAZIT

: Instrumental gesehen liefert diese Band immer noch – oder gerade jetzt - auf Weltklasseniveau ab. Steve Morse fügt sein Gitarrenspiel besser in den Purple-Kontext ein als in früheren Jahren, Don Airey tritt in beeindruckender Weise aus dem Schatten von Jon Lord heraus (ihm dieses Album zu widmen, ist daher gleich aus zwei Gründen eine gute Idee), und die Rhythmussektion ist nach wie vor über jeden Zweifel erhaben. Der gesangliche Teil lebt allerdings mehr vom Legendenstatus des Sängers als vom konkret eingesungenen Material – mit einigen erfreulichen Ausnahmen. Auf jeden Fall hat dieses Album trotz der genannten handwerklichen Mängel mehr Atmosphäre als seine Vorgänger (zumindest die letzten drei), und es sind diverse Songs enthalten, die es verdient haben, nun auch zu Live-Ehren zu kommen, anstelle dass der loyalen Fanbasis weiterhin das über 40 Jahre alte Machine-Head-Zeug um die Ohren gepfeffert wird. Im Studio ist die Band aus dem Schatten des Herrn Blackmore herausgetreten; ob ihr das live auch gelingen wird, bleibt abzuwarten.

: Keep on rockin‘
: Witchy

Sehr objekiv geschrieben. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.




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