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Deep Purple: Live At Montreux 2011
(DVD, Doppel-CD)

von Hans-Jürgen Küsel

Alle 5 Jahre wieder kommt zwar nicht das Christuskind, aber (viele sagen, das sei viel wichtiger) Deep Purple nach Montreux, immer dann, wenn das "Montreux Jazz Festival" ein Jubiläum feiert. So war es auch 2011, als das Festival zum 45. Mal stattfand. Und wie es sich gehört (gängige Praxis seit Langem), traten Deep Purple selbstverständlich als 'Headliner' auf. Die Geschichte dieser Liaison ist hinreichend bekannt. "Funky" Claude Nobs, der Begründer dieses Festivals - und ein Visionär - lud die Band erstmalig 1969 ein, als allenfalls Insider in Europa Kenntnis von Deep Purple hatten und Purple ihrerseits sorgten in der Folgezeit maßgeblich dafür (besonders mit "Smoke on the Water"), dass das Festival mittlerweile zu den renommiertesten Acts der Welt gehört. Eine "Win-Win-Situation" also, wie es neudeutsch heißt. Deep Purple haben also Grund genug, Montreux quasi als ihre "Wohnstube" zu betrachten (wie der deutsche Philosoph Boris Becker es nennen würde, dem wir immerhin die klare begriffliche Unterscheidung zwischen "Wohnstube" und "Besenkammer" zu verdanken haben).

2011 trat Deep Purple (wieder einmal) mit einem Orchester auf. Es handelt sich um die "Neue Philharmonie Frankfurt" unter dem Dirigat von Steven Bentley-Klein, der auch mal die Violine in die Hand nahm (davon später mehr). Dieses Orchester ist im engeren Sinne kein 'klassisches' Orchester wie etwa das London Symphony Orchestra, sondern markiert eher einen Brückenschlag zwischen klassischem Orchester und Bigband. Und die Funktion der "Neuen Philharmonie" bestand auch nicht darin, einen eigenen Klangkörper darzustellen, wie es konstitutiv für das "Concerto for Group and Orchestra" war, um den Weg vom Antagonismus dieser Klangkörper zur Harmonie zu zeichnen. Grundlage des Konzerts war vielmehr die Musik von Deep Purple. Dem Orchester war somit eine rein unterstützende Funktion zugewiesen.

Das Konzert wurde sowohl auf einer DVD als auch auf einer Doppel-CD einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Die Setlist ist in beiden Fällen identisch. Ich beschränke mich für die Besprechung auf die DVD. Technisch kann gesagt werden, dass sowohl die Bild- als auch die Tonqualität sehr gut sind, was man beim gegenwärtigen Stand der Technik wohl auch erwarten darf. Wer also über die Möglichkeit verfügt, seinen DVD-Player an seine Stereo-Anlage anzuschließen, hat bei der DVD praktisch denselben Hörgenuss wie bei den CDs (und im Gegensatz zu diesen) kann er sich das Konzert als wirklich geschlossene Live-Veranstaltung anschauen, ohne mit einem Defizit an akustischer Qualität zu zahlen.

Allgemein finde ich den Konzertmitschnitt großartig. Im Gegensatz zu 2006 (auch ein Jahrhundert-Sänger darf mal einen schlechten Tag haben) befindet sich Ian Gillan wieder auf der Höhe seines Könnens - und führt nebenbei glänzend durchs Programm. Ab und an taucht er mal ab, um sich von Krankenschwestern wegen eines Achillessehnenrisses behandeln zu lassen (siehe Interview). Überhaupt fällt (nicht zum ersten Mal) die überbordende Spielfreude sowohl der Band als auch des Orchesters auf.

Bei all dem Lob muss aber auch die Frage erlaubt sein, ob die Setlist wirklich der Weisheit letzter Schluss ist. Gewiss: Alle anderen Bands, die ähnlich lange (oder sogar noch länger) im Geschäft sind (Who, Stones oder Black Sabbath u. a.) spielen in ihren Gigs noch höhere Anteile (uralter) Hits aus ihrer Frühzeit, aber Deep Purple zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie bis in die Gegenwart immer wieder neue und sehr innovative Songs aus der Taufe heben. Dieser Streit wird sicherlich so lange dauern, wie es Deep Purple gibt. Natürlich muss "Smoke on the Water" - zumal in Montreux - gebracht werden, aber einige Songs aus der (kommerziell) äußerst erfolgreichen und glorreichen Zeit in den frühen Siebzigern sind meines Erachtens durchaus verzichtbar. Ich verstehe einfach nicht, dass die Zeit zwischen 1993 und 2003 in diesem (und nicht nur in diesem) Konzert schlicht nicht stattfindet. Warum ist "Space Truckin" ein Klassiker, der auf quasi jedem Gig gespielt werden muss, "Anya", "The Battle rages on", "Sometimes I feel like Screaming" aber nicht, ganz zu schweigen von den Songs auf "Bananas" auf die man blind mit dem Finger klicken kann, im Bewusstsein, garantiert den richtigen Song zu treffen? Damit man mich nicht falsch versteht: Auch ich liebe "in Rock", "Fireball" und "Machine Head", aber ich liebe eben auch "Perfect Strangers", "Purpendicular", "Bananas", "Rapture oft he Deep" und natürlich auch "Now what?!". Vielleicht sollten Andree oder Lars beim nächsten Interview mit Roger Glover dieses Problem mal zur Sprache bringen.

Kommen wir nun zur Einzelkritik.

1. In der "Overture" bekommt man den Eindruck, der "Einzug der Gladiatoren" werde zelebriert (die "Gladiatoren" befinden sich aber schon auf ihren Plätzen, sind aber in unsichtbares Dunkel getaucht). Das Orchester improvisiert im Bigband-Stil das Grundriff von "Smoke on the Water". Nach eineinhalb Minuten setzt dann übergangslos "Highway Star" mit einem kräftigen Trommelwirbel von Ian Paice ein. Die Orchesterbegleitung verleiht dem Song etwas mehr Fülle und einen gewissen Bigband-Touch (was Paicey eigentlich gut gefallen müsste).

2. "Hard Lovin' Man" gehört zweifelsfrei zu den gelungenen Klassikern. Nicht zum letzten Mal besticht hier das feine Zusammenspiel des Orchesters mit Don Airey (der hier mal eben in einem ersten Orgelsolo einen Parforceritt zu J. S. Bach bietet). Steve Morses anschließendes Solo bereitet dann eine gekonnte Kontra-Harmonie zum ebenso gekonnten Rhythmusspiel von Roger und Paicey.

3. "Maybe I'm a Leo" wird fast ohne Orchester gespielt. Morse und Airey betonen hier den R&B-Hintergrund stärker, als die Polizei - pardon: Ritchie Blackmore - erlaubt.

4. "Strange Kind of Woman" gehört meines Erachtens zu den Songs, auf die man ab und an mal verzichten kann. Auch hier fällt die stärkere Blues-Phrasierung der Firma "Morse & Airey" auf, die Mr Blackmore eher für langweilig hielt. Am Ende des Songs packt Ian Gillan noch einmal (soweit noch möglich) seine unvergleichliche Kopfstimme aus und beweist, dass Blues und Jodeln (das muss in der Schweiz sein!) denselben historischen Hintergrund haben. Und da sage noch einer, so etwas habe nur Chris Farlowe gekonnt.

5."Rapture of the Deep" ist ein echter Höhepunkt dieses Konzerts. Man gewinnt beim Zuhören (und Zusehen) den Eindruck, das ohnehin schon sehr feine Titelstück des (mittlerweile vorletzten) Albums sei speziell für eine solche Veranstaltung komponiert worden. Hier kommt das Zusammenspiel von Band und Orchester wahrhaft zu sich selbst und über allem thront Ian Gillan, der so singt, wie sich Millionen von Frauen den Sultan von Bagdad aus 1001 Nacht vorstellen (und mit Freude zur Kenntnis nehmen, dass sie seines Erachtens genau einen Kopf zu groß sind).

6. "Woman fom Tokyo" kommt als solider Rocksong rüber, mehr nicht. Erwähnenswert gewiss noch das Pianospiel von Don Airey.

7-9. Mit "Contact lost" beginnt das 'Steve Morse Special' des Konzerts. Nach diesem stets wunderschönen Stück, das Steve als Hommage an die 2002 auf tragische Weise verunglückte Crew des Spaceshuttles "Columbia" komponierte, schließt sich ein feines (wenn auch zu kurzes) Solo an, währenddessen er auch in einen originellen musikalischen Dialog mit dem Orchester (und mit Paicey) tritt. Übergangslos setzt dann "When a blind Man cries" ein. Durch den Beitrag des Orchesters gewinnt dieser ewig schöne Song auf betörende Weise eine zusätzliche Farbe. Es hieße, Eulen nach Athen zu tragen, wenn man hier noch einmal betonte, dass Ian Gillan eine phantastische Soulstimme hat (was einen anderen 'Banjo-Spieler' eher gestört hat) und dasselbe gilt, wenn man noch einmal das superbe Gitarrenspiel von Steve in diesem Stück extra erwähnen wollte (das ist schon oft genug geschehen). Flüssig geht es dann über zu einem wahren Sahnehäubchen. Wunderschön ist dieses Morse-Instrumental ohnehin, aber in einem fast schon erotischen Dialog mit einem leibhaftigen Orchester gewinnt "The well dressed Guitar" eine Würde, die an große Beethoven-Kompositionen gemahnt. Ein absoluter Konzert-Höhepunkt, dem lediglich der Makel anhaftet, zu kurz zu sein.

10. Es folgt "Knocking at your Backdoor", eines meiner Lieblingsstücke aus der Mark 2-Ära. Auch hier bringt das Orchester mehr Fülle und Druck hinein und betont damit das hinreißende Tempo des Songs nachhaltig. Steve Morse, der einst bemerkt hatte, dass Ritchie Blackmore seine Schuhe mitnahm, als er DP verließ, hat auch hier seine eigenen Schuhe an und hinterlässt folgerichtig seine eigenen Fußstapfen, d. h. er spielt das zugehörige Gitarrensolo gänzlich anders, aber meines Erachtens nicht schlechter als sein Vorgänger

11. Keine Angst vor Jon: Unter diesem Motto kann Don Aireys Orgelintro zu "Lazy" stehen. Er kann's halt genauso gut! Überhaupt ist es das beste "Lazy", das ich je gehört habe. Der Dirigent Steven Bentley-Klein nimmt hier einfach mal eine Violine in die Hand - und er spielt sie so swingend, dass Pacey (und mit ihm auch Roger) gleich ein musikalisches Heimspiel wittert. Die Folge: Diese drei Musiker legen ein unvergleichliches (leider zu kurzes) Swing-Rock-Intermezzo hin, bei dem man unmöglich ruhig sitzen bleiben kann. Hier - genau hier - ist Pacey auch einem Jon Hiseman überlegen. Offenbar ist Steve von diesem Intermezzo so begeistert, dass er kurzerhand mit einsteigt.

12. "No one came" ist ein solider Purple-Hardrocker mit guter Instrumentierung und nett angereichert durch die dezente Begleitung des Orchesters.

13. Don Airey nimmt uns in seinem Solo mit auf eine Zeitreise in die Musikgeschichte. Dabei geht es keinesfalls chronologisch zu. Vielmehr springt er hinreißend zwischen Barock und Blues, zwischen Wiener Klassik und Jazz hin und her - und vergisst dabei natürlich zu keiner Zeit, dass er Mitglied einer Rockband ist. Auch sein Zusammenspiel mit dem Orchester ist originell und (beiderseits) von großer Spielfreude getragen.

14. Ein weiteres Lieblingsstück aus der Mark 2-Ära folgt: "Perfect Strangers". Auch hier zeigt Don Airey im Intro, dass er an Klasse seinem Vorgänger in nichts nachsteht. Durch die Orchesterbegleitung erhält dieser Song eine ganz besondere Aura. Das dem Song innewohnende orientalische Moment wird so noch einmal deutlich verstärkt. Auch hier: eine der besten Varianten, die ich je gehört habe.

15. Natürlich besaß "Space Truckin'" in den Gigs der 70er Jahre den Charme einer 'Startrampe' für ausgedehnte Instrumentalsoli. Aber muss dieser Song auch heute noch auf (fast) jedem Live-Set auftauchen? Gewiss, die Instrumente werden solide und kraftvoll gespielt und auch Ian Gillans Gesang ist über jeden Verdacht erhaben. Aber was geschieht, wenn die Ärzte einst "Tod durch Überspielen" diagnostizieren? Bitte des Öfteren mal ersetzen, beispielsweise durch "Doing it tonight".

16. Selbstverständlich ist "Smoke on the Water", zumal in Montreux, als Live-Act unverzichtbar. Gewinnt zudem einerseits durch die Orchesterbegleitung, andererseits durch den ideellen Riesenchor namens Publikum. Im Geburtsort dieses Monumentalsongs können sie's halt am besten. Übrigens: Ich habe gelesen, die Schweiz suche nach einer neuen Nationalhymne. Ich hätte da schon...

17 und 18. Der Zugabeteil besteht aus - Überraschung!!! - "Hush" und "Black Night". Warum ist Roger eigentlich so entsetzlich bescheiden? Hier endlich zeigt er, dass er den Bass durchaus auch sehr gekonnt als Lead-Instrument einsetzen kann, was mich sogar ein wenig an den unvergessenen John Entwistle erinnert. Überhaupt sind die Bass-Drums-Duette so großartig, dass ich in Zukunft gern mehr davon hätte. "Hush" hat halt den Charme, das erste DP-Stück zu sein, dass ich (1968 im Radio) je gehört habe. Natürlich wurde es für die Zwei-Oktaven-Stimme (schon sehr wohlwollend) von Rod Evans geschrieben und ist per se eine Unterforderung für Ian, der daraus dann aber erstaunlich viel herausholt. Und "Black Night": Wir sehen, dass Reim und Alkohol kein Widerspruch sein müssen und überhaupt die Lyrics seltsam verschlungene Wege gehen. Aber erstaunlich: Mitreißend ist es immer und immer wieder.

Am Ende betritt Funky Claude die Bühne, bekleidet mit einem rot-weiß gestreiften Anzug, und schmettert sein "Deeeeeeeeep Purple" ins Publkum. Leider lebt er nun nicht mehr und es bleibt zu hoffen, dass sein(e) Nachfolger ein ebenso gutes Händchen hat (haben), um dieses Festival weiterhin attraktiv und innovativ zu gestalten und dass auch in zumindest näherer Zukunft Deep Purple dabei eine bedeutende Rolle spielen.

Das hier abgebildete Cover stammt von der CD, aber das DVD-Cover ist damit praktisch identisch, nur eben rechteckig.

Die im Bonusteil enthaltenen Interviews werden mit jedem DP-Mitglied einzeln geführt. Störgeräusche, wie 2006, sucht man glücklicherweise vergebens. Man kann deutsche Untertitel auswählen. Die meisten Äußerungen sind uns DP-Fans längst bekannt, aber einige interessante Nuancen können wir noch herausholen. Interessant, wie ich finde, sind einige Ausführungen Ian Gillans zu Ritchie Blackmore. Ian hat, offenbar auch schon altersweise, viele Spitzen gegenüber dem früheren 'Banjo-Player' zurückgenommen und lässt ihn in einem eher sanften Licht erscheinen. Vielleicht schon eine Andeutung, dass 2018, zum 50-jährigen Bandjubiläum, Ritchie und Steve wirklich gemeinsam auftreten können. Ich jedenfalls bin gespannt!!

Hans-Jürgen Küsel